Nathalie Quartenoud

Ein erster Schritt, um autistische Personen besser an der Universität aufzunehmen:

 

Photograph of Nathalie Quartenoud Macherel

Nathalie Quartenoud Macherel, Dozentin an der Abteilung für Sonderpädagogik, und ihre Kolleginnen und Kollegen haben diese Plattform ins Leben gerufen, um die Integration von Studierenden aus dem Autismus-Spektrum in das akademische Umfeld zu erleichtern.

Sie bieten einen innovativen Ansatz in der Schweiz und im französischsprachigen Raum an. Für viele ist ein Autist eine Art Rain Man, aber worum handelt es sich genau?
Autismus gehört zu den Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung. Sie beeinflusst die Art und Weise, wie eine Person mit anderen Menschen und ihrer Umwelt in Beziehung tritt. Man spricht von einem Spektrum, da Autismus bei verschiedenen Personen und zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann.

Wie hoch ist der Anteil von Autisten in der Bevölkerung?
Autismus betrifft etwa 1% der Gesamtbevölkerung. Aufgrund der europäischen Zahlen an den Hochschulen kann man davon ausgehen, dass es an der Universität Freiburg etwa 50 Studierende mit Autismus gibt. Diese Studierenden haben oft einen steinigen Weg hinter sich, um an diesen Punkt zu gelangen. Jahrelang gingen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen davon aus, dass Autismus fast ausschliesslich bei Männern auftritt und Mädchen wurden zu einer „Ausnahme in der Ausnahme“ gemacht. Dieser Trend ändert sich nun.

Warum brechen autistische Studierende ihr Studium häufiger ab als andere?
Autisten haben andere Sinneswahrnehmungen, die das Lernen erschweren können. Nehmen wir als Beispiel einen Studenten mit einer auditiven Hypersensibilität. Geräusche, das Ticken einer Uhr, das Geräusch eines Projektors oder das Klappern einer Computertastatur können ihn völlig aus der Bahn werfen, sodass er sich nicht mehr auf das konzentrieren kann, was der/die Dozierende sagt.

Das kann aber auch bei einem „normalen“ Menschen der Fall sein!
Im Gegensatz zu neurotypischen Menschen können autistische Menschen Informationen nicht immer richtig einordnen, da alle Informationen mit der gleichen Intensität auf sie einwirken. Ein Bus, der während einer Prüfung in der Ferne vorbeifährt, kann sehr verwirrend sein. Während ein neurotypischer Mensch diese leichte Störung problemlos ignorieren kann, muss sich ein autistischer Mensch konzentrieren, um die Informationen zu sortieren. Das ist eine doppelte Aufgabe. Das überempfindliche Gehör kann Menschen aus dem Autismus-Spektrum schliesslich ermüden, da sie sich sehr anstrengen müssen, um ihre Aufmerksamkeit auf andere Aufgaben zu lenken. Das ist in etwa so, als würde ich Sie bitten, zwei Vorlesungen gleichzeitig zu besuchen. Das kann schnell ermüdend werden, da ständig Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Aufmerksamkeit an die richtige Stelle zu lenken. Einfache Anpassungen können ausreichen, um diese Aufgabe zu erleichtern und das Risiko eines Studienabbruchs zu minimieren.

Ist das Gehör der einzige Sinn, der betroffen ist?
In der Welt des Autismus ist es üblich zu sagen, dass es so viele Autisten wie Menschen mit Autismus gibt. Oft hört man auch den Spruch: „Wenn du einen autistischen Menschen getroffen hast, hast du einen autistischen Menschen getroffen“. Im Grossen und Ganzen kann man also viel erklären, aber die Autismus-Spektrum-Störung ist bei jeder Person anders. Auf rein sensorischer Ebene sind manche Menschen durch eine taktile Hypersensibilität beeinträchtigt und passen ihren Alltag z. B. bei der Wahl ihrer Kleidung an. Andere sind vielleicht visuell empfindlich und fühlen sich in einem Klassenzimmer mit blinkender Neonbeleuchtung eher unwohl. Für manche Menschen ist diese Sensibilität so stark, dass sie Schmerzen verursacht, während andere diese Unannehmlichkeiten gut kontrollieren können. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass fast die Hälfte der Menschen mit Autismus über normale intellektuelle Fähigkeiten verfügt, ein Teil von ihnen sogar überdurchschnittliche. Daher sollte man eher von einer atypischen als von einer defizitären Funktionsweise sprechen und zwischen dieser atypischen Funktionsweise und den akademischen Fähigkeiten unterscheiden.

Welche Lösungen könnte die Universität umsetzen?
Das Prinzip des universellen Lernkonzepts findet seinen Weg in die Hochschulen. Dieses Konzept sieht vor, dass Lehrformen gemischt werden, um eine breite Palette von Studierenden anzusprechen. Es zeigt sich, dass die meisten Anpassungen automatisch den meisten Studierenden zugutekommen würden: Folien im Voraus kommunizieren, auf sensorische Aspekte achten, Gruppenbildung für gemeinsame Arbeiten unterstützen, eine klare Unterrichtsstruktur vorschlagen, die Erwartungen in Bezug auf die Lernziele verdeutlichen. Aber auch auf struktureller Ebene werden die Vereinfachung der Raumnummern in unserer riesigen, über die ganze Stadt verteilten Universität, die Einrichtung ruhiger Räume oder die Sensibilisierung des Verwaltungspersonals in Zukunft Schritte in Richtung eines wohlwollenden Verständnisses darstellen. In der Tat entfernen wir uns immer mehr von einer konformistischen Sichtweise, was uns auch der Begriff der Neurodiversität lehrt: Es gibt kein typisches Profil eines Professors oder eines Studenten. Der Wert des Andersdenkens kann für das akademische und berufliche Umfeld beträchtliche Ressourcen darstellen, ohne die hervorragende Qualität der universitären Ausbildung zu gefährden – glücklicherweise.

Es gibt also keinen Grund, warum wir Behinderungen nicht besser an der Universität willkommen heissen sollten.
Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen, dass eine angemessene Unterstützung das Risiko des Scheiterns während des Universitätsstudiums deutlich senkt und somit den Einstieg in die Arbeitswelt erleichtert. Die Anforderungen an die Qualität der erwarteten Kompetenzen bleiben genau dieselben.

Zusätzliche Informationen

Nathalie Quartenoud Macherel arbeitet eng mit dem Büro für Studium und Behinderung zusammen und hält Sprechstunden für Studierende zum Thema Autismus-Spektrum-Störung bei der Psychologischen Studierendenberatung ab.

Über den Autor

Das Interview wurde von Christian Doninelli für die Universitätszeitung Alma&Georges geführt.

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