Autismus an der Universität?

In diesem Kapitel wird erklärt, wieso es wichtig ist, das Thema Autismus an der Universität zu berücksichtigen.

Hintergrund

Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) gehört zu den Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung (American Psychiatric Association, 2013). Die Diagnosekriterien werden in zwei Bereiche unterteilt: 1) anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und der sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg und 2) eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten. Besonderheiten in Bezug auf sensorische Reize (Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an Umweltreizen) gehören zu diesem zweiten Bereich (American Psychiatric Association, 2013). Ungefähr 55% der mit ASS diagnostizierten Personen weisen eine intellektuelle Beeinträchtigung aufweisen. Bei einem relativ grossen Anteil der Personen mit einer ASS Diagnose liegt die intellektuelle Entwicklung im Normbereich. Bei ungefähr 3% liegt die intellektuelle Entwicklung sogar über der Norm (Flouri, Midouhas, Charman, & Sarmadi, 2015).

Die Definition der Autismus-Spektrum-Störung kann als defizitär erscheinen. Das kann in Anbetracht der atypischen Funktionsweisen und der akademischen Fähigkeiten zu Verwirrungen führen. Es ist daher wichtig, zwischen diesen beiden Elementen zu unterscheiden.

 

 

Was hat das mit mir zu tun?

Es ist wichtig, sich mit dem Thema Autismus an der Universität auseinanderzusetzen, abgesehen davon, ob Sie nun Dozent/Dozentin, Verwaltungsmitarbeiter/ Verwaltungsmitarbeiterin, Kollege/Kollegin, neurotypischer Student/ neurotypische Studentin oder selbst auf dem Autismus-Spektrum sind.

Die Prävalenzrate von ASS wird heute auf ungefähr 1/100 Menschen geschätzt (Bent, Barbaro, & Dissanayake, 2017). Im Kontext der sich verändernden Definitionen und Diagnosemethoden wird ein stetiger Aufwärtstrend in der Prävalenzrate festgestellt, insbesondere im Hinblick auf ASS ohne assoziierte intellektuelle Beeinträchtigung (Asperger-Syndrom oder hochfunktionaler Autismus; Presmanes Hill et al., 2014; Zbinden Sapin, Thommen, Laetitia, Eckert, & Liesen, 2016).

Auf der Grundlage von Studien aus Westeuropa, wo 0,3 bis 0,6 Prozent der Studierenden im ersten Zyklus eine ASS aufweisen, kann angenommen werden, dass auch in der Schweiz junge Erwachsene mit ASS ihre Ausbildung an Hochschulen fortsetzen (HESA, 2019; Kreiser & White, 2015; Presmanes Hill et al., 2014; Van den Broek, Muskens, & Winkels, 2013).

Bezogen auf die Anzahl der Studierenden im Studienjahr 2019-2020 würde dies bedeuten, dass zu dieser Zeit zwischen 31 und 63 Studierende mit ASS an der Universität Freiburg studiert haben. Oft wird die ASS-Diagnose beim Eintritt in die Universität und während des gesamten Studiums nicht kommuniziert (oder die Diagnose wurde noch nicht gestellt). Daher erhalten die Studierenden mit ASS oft auch nicht die nötige Unterstützung, von der sie profitieren könnten.

Die Tertiärbildung für Menschen aus dem Autismus-Spektrum, deren Intelligenz der Norm entspricht oder diese übertrifft, hat lange Zeit nur begrenzte wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten (Fabri & Andrews, 2015).

Das Projekt Autism&Uni

Das europäische Projekt „Autism&Uni“, das seit 2013 von der Gruppe „European Union under the Lifelong Learning Program“ (Grossbritannien, Finnland, Holland, Polen und Spanien) aus einem EU-Fonds entwickelt wurde, zielt darauf ab, diese Lücke zu schliessen.

Aus dem Projekt Autism&Uni ist die Entwicklung einer E-Plattform zur Unterstützung von Studierenden mit ASS hervorgegangen. Diese E-Plattform, die mit autistischen Personen entwickelt und umgesetzt wurde (einheitliche, explizite und zugängliche Struktur), ist bereits in Betrieb und wurde von mehreren europäischen Universitäten angepasst (siehe http://www.autism-uni.org).

In diesem Kontext und in Zusammenarbeit mit den Initiatoren wurde auch diese Freiburger Plattform erstellt. Es handelt sich dabei um die erste Plattform der Schweiz und das erste französischsprachige Angebot.

Das Autismus-Spektrum

Autismus wird als „Spektrum“ definiert. Dieses Spektrum wird häufig auf einer Schweregradskala beschrieben. Das Spektrum umfasst jedoch auch Besonderheiten, die je nach Person und Kontext variieren können (Lernmuster, Problemlösung, Konzentration, Kommunikation). Daher sollte die Analyse des besonderen Unterstützungsbedarfs von Personen mit ASS im Mittelpunkt stehen. Es ist beispielsweise bekannt, dass Übergänge (Gymnasium – Universität / Universität – Berufsleben) besonders sensibel sind und die Studienabbruchquoten bei diesen Studierenden mit ASS hoch sind (HESA, 2013; Lee, 2012).

Viele junge Menschen mit ASS könnten ihr berufliches Potenzial mit einem Minimum an Unterstützungsmassnahmen während ihrer akademischen Laufbahn voll entfalten. In vielen Ländern gibt es bereits Programme, welche die Chancenungleichheit verringern sollen (National Autistic Society, 2014, zitiert nach Carpenter et al., 2019; Angaben zum Nachteilsausgleich im entsprechenden Kapitel). In Kanada gibt es beispielsweise mehrere solcher Programme. Darunter befindet sich auch das besonders interessante Peer-Mentoring-Programm der Simon Fraser University (Leach, 2019). Manche Universitäten bieten einen Vorbereitungsaufenthalt an, um den Übergang von der Sekundarschule zur Universität zu erleichtern oder haben ein Unterstützungsbüro für das Erlernen sozialer Kompetenzen.

Der Bundesrat ist sich der Bedeutung dieses Themas bewusst und hat dazu einen Bericht herausgegeben. In diesem Bericht wird darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, junge Erwachsene aus dem Autismus-Spektrum darin zu unterstützen, ihr Potential zu entfalten, um im Arbeitsmarkt zu bestehen (Bundesrat, 2018).

Der Wunsch die Exzellenz der universitären Ausbildung in der Schweiz zu erhalten, ist glücklicherweise immer noch sehr stark. Es wird jedoch auch erkannt, dass Exzellenz und Konformität nicht zwangsläufig im Einklang miteinander stehen und die Visionen öffnen sich langsam für die Vielfalt, die Diversität und auch für die Neurodiversität.

Universal Design for Learning

Im Zentrum dieser Philosophie steht die Bewegung des „universal design for learning“, die eine Mischung aus verschiedenen Formen der Lernbegleitung fördert, um möglichst vielen Nutzer/Nutzerinnen gerecht zu werden (Burgstahler & Russo-Gleicher, 2015; CAST, 2018). Weitere Denkanstösse finden Sie im Kapitel für die Dozierenden und das administrative Personal der Universität. Es stellt sich heute also nicht mehr die Frage, ob autistische Studierende integriert werden sollen, sondern wie diese Integration (Bonvin, Ramel, Curchod-Ruedi, Albanese und Doudin, zitiert in Paccaud, 2017), im Einklang mit dem Prinzip der Inklusion von Neurodiversität im akademischen Umfeld (Chamak, 2015), erreicht werden kann.

Dozierende wissen oft nicht, wie sie mit der Neurodiversität einer Lerngruppe umgehen sollen oder wie sie sich und den Unterricht an die unterschiedlichen Bedürfnisse anpassen können. Die vorliegende Plattform Autism&Uni soll die Dozierenden im Umgang mit diesen Herausforderungen unterstützen. Angesichts der Prävalenz von Autismus in der Gesellschaft ist es wahrscheinlich, dass die Mehrheit der Dozierenden an der Universität im Laufe ihrer Karriere mit Studierenden aus dem Autismus-Spektrum konfrontiert sein wird.

Was ist der nächste Schritt?

Stellen Sie sich selbst Fragen: Fühlen Sie sich ausreichend über Autismus informiert?

Praktische Tipps

  • Wenn Sie mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum zusammenarbeiten, tauschen Sie sich mit ihnen aus, um zu verstehen, wie sie miteinander umgehen können.
  • Wenn Sie Dozent/Dozentin sind, machen Sie eine Momentaufnahme Ihrer Unterrichtsmethoden, um mögliche Anpassungen an die unterschiedlichen Lernprofile der Studierenden zu identifizieren.
  • Wenn Sie zum administrativen Personal gehören, schauen Sie, ob es möglicherweise strukturelle Barrieren für bestimmte Studierende gibt.
  • Wenn Sie glauben, dass Sie eine Autismus-Spektrum-Störung haben, sich aber nicht sicher sind, wenden Sie sich an das Autism&Uni-Team. Das Team unterstützt Sie gerne bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema.

Kommunikation mit einer Person aus dem Autismus-Spektrum

Fragen, die Sie sich stellen sollten

  • Wie kommunizieren Sie?
  • Sind Ihre Aussagen strukturiert?
  • Sprechen Sie zweideutig?
  • Was ist für Sie normal?
  • Sind Sie immer noch der Meinung, dass Normalität und Exzellenz miteinander vereinbar sind?

 

Zusätzliche Informationen

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an das Autism&Uni-Team der Universität Freiburg

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Über den Autor

Nathalie Quartenoud ©

Übsersetzt von Gina Nenninger