Nicolas Ruffieux

Nicolas Ruffieux ist Professor am Departement für Sonderpädagogik der Universität Freiburg. Er beschreibt uns die Werte, die diesem Projekt zugrunde liegen.

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Guten Tag, Herr Ruffieux

Sie sind Professor und Leiter des Bachelor-Studienganges Klinische Heilpädagogik und Sonderpädagogik an der Universität Freiburg. Wir werden heute mit Ihnen über Autismus sprechen. Viele Menschen bringen Autismus mit geistiger Behinderung in Verbindung. Können Sie uns daher erklären, wie der Autismus in die Universitätsbänke gelangt ist?

Tatsächlich ist diese falsche Vorstellung, dass Autismus zwangsläufig mit einer geistigen Behinderung verbunden ist, immer noch sehr präsent – selbst bei Fachleuten, die sich an Hochschulen engagieren! Aktuelle Zahlen zeigen jedoch, dass etwa die Hälfte der Menschen im Autismus-Spektrum über eine durchschnittliche allgemeine Intelligenz verfügt, manche sogar über eine überdurchschnittlich hohe Intelligenz.

Auch wenn diese Studierenden mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert sind (die erklären, warum sie an den Hochschulen unterrepräsentiert sind), ist es daher völlig normal, dass wir sie auf den Hochschulbänken wiederfinden. Studierende aus dem Autismus-Spektrum waren schon immer auf den Bänken der Hochschulen vertreten. Der Perspektivenwechsel in Bezug auf die Einbeziehung der Neurodiversität im Schulwesen hat dazu geführt, dass die Situation der Studierenden aus dem Autismus-Spektrum heute besser anerkannt wird und sie vielleicht auch zahlreicher sind.

Aus diesem Grund bin ich der Meinung, dass es sehr wichtig ist, den akademischen Werdegang von Studierenden im Autismus-Spektrum sichtbar zu machen. Im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern sind wir in der Schweiz noch sehr zögerlich, was die Idee betrifft, offen über Autismus zu sprechen und diesen Studierenden entsprechende Anpassungen auf Hochschulniveau anzubieten. Die für die Universität Freiburg entwickelte E-Plattform zielt darauf ab, die Situation dieser Studierenden und die möglichen Hilfestellungen/Anpassungen zur Förderung ihres akademischen Erfolgs hervorzuheben.

Besteht nicht die Gefahr einer Nivellierung nach unten, wenn man atypische Personen an die Universität lässt?

Ganz im Gegenteil! Meiner Meinung nach stellt die Vielfalt der Profile der Studierenden einen echten Mehrwert für unsere Studiengänge sowie für bestimmte Berufsfelder dar, die manchmal besonders nach Menschen aus dem Autismus-Spektrum suchen, eben weil sie atypische Denkweisen oder besondere Kompetenzen haben. Es stimmt, dass die Inklusion von Menschen mit ASS einen Paradigmenwechsel in der akademischen Welt erfordert. Die meisten der empfohlenen Anpassungen sind jedoch für alle Studierenden von Vorteil – das ist das grosse Prinzip des Universal Design for Learning. Beispielsweise ist es für Studierende mit ASS besonders wichtig, in einer ruhigen Umgebung ohne störende Sinnesreize lernen zu können. Die Bereitstellung einer Liste von Bibliotheken und Räumlichkeiten an der Universität, die diesen Kriterien entsprechen, hilft allen Studierenden, die solche Bedürfnisse haben.

Können Sie erklären, inwiefern die autistische Funktionsweise einen Einfluss auf den Werdegang von Studierenden haben könnte?

Zunächst sei daran erinnert, dass jeder Mensch mit ASS ein individuelles Profil aufweist, sodass man mit Verallgemeinerungen vorsichtig sein muss. Aber hier sind einige Schwierigkeiten, die von diesen Studierenden regelmässig berichtet werden. Im akademischen Bereich ist es für diese Studierende oft schwierig, sich an die verschiedenen Unterrichtsmodalitäten anzupassen (Vorlesungen ex cathedra in grossen Hörsälen, Gruppenarbeiten, Fernunterricht usw.), die Vielzahl an Informationen in administrativer Hinsicht (Einschreibungen, Verfahren usw.) zu bewältigen, ihre kurz- und langfristige Planung zu organisieren sowie den Stress zu bewältigen, der mit den verschiedenen Prüfungssituationen und der Interaktion mit anderen Studierenden/Dozierenden verbunden ist. Ausserhalb des akademischen Bereichs geht der Übergang zu einem Hochschulstudium häufig mit einer erhöhten Autonomie bei den Aktivitäten des täglichen Lebens einher (Leben ausserhalb des Elternhauses, Verwaltung eines Budgets, Organisation der zur Verfügung stehenden Zeit, Zubereitung von Mahlzeiten usw.). Diese Veränderung des Umfelds kann für diese Studierende eine erhebliche Stressquelle darstellen, da sie es in der Regel schätzen, einen festen und geregelten Lebensrahmen zu haben.

Diese Aspekte gelten natürlich auch für viele Studierende ohne Autismus-Spektrum-Störung, aber für Studierende mit Autismus stellen diese Anpassungen eine noch grössere Herausforderung dar, die ohne entsprechende Unterstützung manchmal nicht zu bewältigen ist. Mehrere wissenschaftliche Studien belegen, dass die Abbruchquote bei Studierenden mit einer Autismus-Spektrum-Störung im Durchschnitt signifikant höher ist. Manchmal können einfache Anpassungen und Hilfestellungen die Adaption erleichtern und das Risiko eines Studienabbruchs verringern.

Sie sind darauf spezialisiert, die exekutiven Funktionen zu verstehen. In wenigen Worten: Worum geht es?

Exekutive Funktionen umfassen die kognitiven Prozesse, die es uns ermöglichen, uns an komplexe und neue Situationen in unserem täglichen Leben anzupassen. Man kann sie als den „Dirigenten unseres Gehirns“ bezeichnen. Zu diesen Funktionen gehören unter anderem geistige Flexibilität, Inhibition, Planung und Arbeitsgedächtnis. Ein Merkmal, das häufig bei Menschen im Autismus-Spektrum zu finden ist, betrifft genau diese Schwierigkeiten im Bereich der exekutiven Funktionen.

Im Gymnasium waren Schüler und Schülerinnen an einen festen Rahmen gewöhnt: regelmässige Unterrichtsplanung, sehr strukturierte und begleitete Arbeitsorganisation, regelmässige Bewertungen etc. Dies steht in starkem Kontrast zum universitären Rahmen, der von den Studierenden viel mehr Autonomie und Organisation verlangt. Die berühmte akademische Freiheit stellt hohe Anforderungen an die exekutiven Funktionen, vor allem bei Studierenden mit Autismus. So sind beispielsweise die Selbstorganisation (Verwendung eines Terminkalenders, Planung der Zeit für die Überarbeitung, Vorwegnahme von Fristen) oder das Anfertigen von Notizen (Auswahl der wesentlichen Informationen) für diese Studierende besonders schwierig zu bewältigen. Viele Anpassungen zielen daher darauf ab, ihnen zu helfen, diese exekutiven Schwierigkeiten zu kompensieren, z. B. durch das Angebot von Workshops zum Thema Notizen machen, die Vermittlung von Software, die die Arbeitsorganisation erleichtert, die Festlegung klarer Verfahren usw. Auch hier gilt: Im Sinne des Universal Design for Learning kommen diese Anpassungen allen Studierenden zugute.

Können Sie uns erklären, wie die Lehrkräfte diese Besonderheiten berücksichtigen können, ohne die Qualität ihres Unterrichts zu beeinträchtigen?

Die Grundidee besteht darin, für diese Studierenden einen klaren und strukturierten Rahmen zu schaffen, der Unklarheiten begrenzt, indem man sich zunächst diese Frage stellt: Sind alle Modalitäten meines Kurses ausreichend explizit (Uhrzeit des Kursbeginns und -endes, geplante Pause, zu verwendende Plattform um Zugang zu den Dokumenten zu erhalten, Arbeitsweise, Lernziele und Erwartungen für die Prüfung, klare Fristen usw.). Es ist besonders wichtig, bereits zu Beginn des Semesters einen sehr klaren Rahmen zu schaffen, um die Ambivalenzen zu begrenzen, die bei diesen Studierenden viel Angst verursachen und manchmal zu Blockaden führen können, die leicht hätten vermieden werden können.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, zu versuchen, die Wünsche der betroffenen Studierenden so weit wie möglich zu berücksichtigen. Ein einfaches Beispiel: In einer meiner Vorlesungen machte mich eine Studentin aus dem Autismus-Spektrum darauf aufmerksam, dass ich oft vergass, die Lautsprecher im Raum zwischen den gezeigten Videos auszuschalten, was zu einem Hintergrundgeräusch führte, das ich persönlich nicht hören konnte, das die Studentin aber sehr störte. Offenbar hatte sie diese Art von Problemen (vor allem Lärm- und Lichtüberempfindlichkeit) auch bei anderen Dozierenden, schämte sich aber sehr, darüber zu sprechen. Mit ihrem Einverständnis schickten wir dann eine Nachricht an alle Dozierenden, um sie auf dieses Problem aufmerksam zu machen (in diesem Fall hatte die Studentin es vorgezogen, anonym zu bleiben). Dieses Beispiel zeigt auch, dass es für diese Studierenden oft schwieriger ist, ein Problem direkt an die Dozierenden heranzutragen.

Welchen Rat würden Sie jungen Studierenden aus dem Autismus-Spektrum geben?

Auf den ersten Blick mag das universitäre Umfeld überwältigend erscheinen und eine erhebliche Angstquelle darstellen. Ich würde einem jungen Studenten oder einer jungen Studentin raten, den Übergang in die Universität gut vorzubereiten, indem er oder sie die Universität und die Stadt besucht, um sich vor Beginn des Semesters mit der Umgebung vertraut zu machen. Die ersten Vorlesungswochen eines jeden Semesters sind dann sehr wichtig, um praktische Informationen zu den einzelnen Unterrichtseinheiten zu sammeln. Wenn der/die Studierende für das Studium das familiäre Umfeld verlassen muss, würde ich empfehlen, die Herausforderungen, die dieser Wechsel mit sich bringt (Verwaltung eines Budgets, Zubereitung von Mahlzeiten, Leben in einer Wohngemeinschaft, Reisen usw.), gut zu antizipieren, z.B. indem er oder sie einige Wochen/Monate vor Studienbeginn umzieht oder diese Aufgaben im Voraus übt, um den doppelten Stress, der mit dem Wechsel des Umfelds und dem Studienbeginn verbunden ist, zu begrenzen.

Viele Studierende aus dem Autismus-Spektrum benötigen keine besondere Unterstützung, aber ich würde diesem Studierenden empfehlen, zu versuchen, ihre Bedürfnisse zu ermitteln und sich ohne zu zögern beim Büro für Studium und Behinderung zu melden, um Informationen zu sammeln und zu erfahren, welche Anpassungen möglich sind. Wenn er/sie glaubt, dass dies für ihn/sie hilfreich sein könnte, sollte er/sie nicht zögern, seinen Kolleginnen und Kollegen von dem Autismus zu erzählen, damit sie verstehen, wie er ihn/sie beeinflusst, und damit sie sich bei Bedarf leichter ansprechen können. Darüber hinaus halte ich es für wesentlich, Zeit für die Planung und Organisation jedes Studienjahres aufzuwenden, indem man ein effizientes Kalender- und Notiz-System verwendet. Studierende können auf der E-Plattform Autismus&Uni viele nützliche und konkrete Informationen sowie Erfahrungsberichte von Studierenden finden, die ähnliche Situationen erlebt haben.

Danke

Zusätzliche Informationen

Nicolas Ruffieux ist Teil der Initiative Autismus&UniSuisse und zusammen mit Nathalie Quartenoud und Catherine de Blasio der Gründer dieser Website. Er ist aktiv an der Unterstützung der Neurodiversität an der Universität Freiburg beteiligt.

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