Projekt

Das Projekt untersucht Formen und Funktionen medikaler (Innen-)Räume in der Literatur vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart und fragt übergreifend nach der Rolle von Literatur im gesellschaftlichen Medikalisierungsprozess.

Moderne medikale Räume

Chromblitzende Operationssäle und abgründige Sezierkeller, geheimnisvolle Labore und Kernspin-Räume, Kliniklazarette und Großkrankenhäuser: Die westliche Medizin durchläuft im 20. und 21. Jahrhundert einen rasanten Prozess der Verwissenschaftlichung – und der manifestiert sich u.a. in neuartigen Funktionsräumen, Gebäuden und architektonischen Topografien. Sie sind durch Schwellen geordnet und mit technischen Apparaten und Experten bestückt, die hier neues Wissen und neue Praktiken hervorbringen; das reicht vom Bakteriennachweis über den ersten durchleuchteten Brustkorb bis zur erfolgreichen Lebertransplantation.

Bakteriologisches Labor Königlich Preussisches Institut für Infektionskrankheiten um 1910 (RKI)

PET CT Raum Charité

Medikale Schauplätze in der Literatur

Ganz anders Literatur, besonders erzählende Literatur. Auch sie interessiert sich nachhaltig für medikale Räume, entwirft sie als Schauplätze fiktionaler Szenarien, bewahrt sich dabei allerdings stets den reflexiven Blick, der ihr als autonomer Sonderdiskurs eignet. Im Gegensatz zu den epistemischen Eindeutigkeiten und Gewissheiten, die Mediziner ihren Pathologieinstituten, Operationssälen, Bestrahlungszentren und Kernspin-Räumen im Laufe des 20. und 21. Jh. anheften, wird die symbolische Vielstelligkeit solcher Orte von Literatur gleichermassen entdeckt und zuallererst hergestellt. Erweisen sich doch Operations- und Bestrahlungs-Räume nicht nur als Orte omnipotenter Machtbarkeit, sondern als Transitionszonen zwischen Leben und Tod, Individualität und Abstraktion, Humanität und Technizismus.

In solch hochgerüsteten Binnenräumen wird der Mensch also auf neuartige Weise vermessen, quantifiziert und optimiert – und dementsprechend unterschiedlich fallen die gesellschaftlichen Reaktionen aus. Für die naturwissenschaftlich-orthodoxe Medizin dienen diese Funktionsräume häufig der Selbstfeier: In prunkvollen Eröffnungsfeiern, Fachpublikationen und populären Schriften inszeniert man sie als Garanten von Fortschritt, kultureller Stabilität, ja Omnipotenz; besonders in Zeiten der Krise.

Operationssaal Bern Inselspital 1927

Heilstätte Grafenhof

Solchen literarischen Inszenierungen, von Ernst Weiß’ und Leonhard Frank bis zu Christa Wolf und David Wagner, gehen wir im Projekt nach. Leithypothese ist, dass medikale Räume – aufgrund ihrer Zeichenhaftigkeit, Enigmatik und Abgesondertheit – weniger Krisen stillstellen als der kulturellen Reflexion von Krisen dienen; und zwar der vielfältigen politischen, künstlerischen und gesellschaftlichen Krisen, die das lange 20. Jhdt. erschüttern.

Zeitepochen: Zwischenkriegszeit (1918-1933) und ‘lange’ Gegenwart (1945-jetzt)

Dabei konzentrieren wir uns historisch auf zwei Zeitabschnitte, die erstens wesentliche medikale Innovationsschübe, zweitens neue Erzählformen und drittens beschleunigten soziopolitischen Systemwandel und veränderte Menschenbilder hervorbringen: Die Zwischenkriegszeit sowie die Gegenwart; Letztere weit gedacht von der Nachkriegszeit bis zur Postmoderne, deren Literaturbetrieb seinerseits stark durch die Bewegung der Medical Humanities geprägt ist. Und aus der Doppelperspektive der Medical Humanities wollen wir – zum einen – die Rolle von Literatur im Prozess der Medikalisierung erkunden, der das lange 20. Jhdt. auf singuläre Weise prägt. Zum anderen fragen wir danach, wie sich die Raumangebote der Technikmedizin auf das Erzählen, auf poetologische Reflexionen und Gattungsexperimente auswirken; ob sie neue Genres und mediale Formate hervorbringen, beispielsweise die den aktuellen Buchmarkt überschwemmenden Illness narratives. Damit versteht sich unser Projekt als Beitrag zur kurrenten literaturwissenschaftlichen Raumforschung; methodologisch leitend sind dabei Rahmentheorien zur Narratologie des Raumes.
Literatur hat, so ist also zu vermuten, am kulturellen Medikalisierungsprozess nicht nur entscheidenden Anteil, sondern nimmt mit einer eigenständigen Stimme an der Raumgestaltung teil. Dieser Ausgangsvermutung gehen wir in zwei Teilprojekten nach, die als Monografien angelegt sind und sich den zwei genannten Zeitabschnitten widmen.

Teilprojekt 1 »Ein heimatlicher Geruch von allerlei Chemikalien«: Medikale Expertenräume in der Erzählprosa 1918-1933

Das Teilprojekt geht der Bedeutung neuartiger medikaler Räume in der heterogenen Prosa der Zwischenkriegszeit nach. Wie werden solche Raumszenarien narrativ dargestellt, symbolisch codiert und zur Reflexion multipler Krisenerfahrungen – Krieg und Wirtschaftskrise, Vermassung und Prekarisierung, Revolution und politische Extremismen, zerfallende Gesellschafts- und Gender-Konzepte – funktionalisiert? Martina King (PI) untersucht diese Fragen anhand folgender Texte:

Leonhard Frank: Die Kriegskrüppel (1918), Ernst Weiß: Mensch gegen Mensch (1919), Ders.: Der Arzt (1919), Thomas Mann: Der Zauberberg (1924), Arthur Schnitzler: Traumnovelle (1925), Paula Schlier: Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit (1926), Franz Werfel: Die Entfremdung (1927), Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues (1928), Ernst Weiß: Georg Letham, Arzt und Mörder (1931), Ders.: Die Herznaht (1937)

Teilprojekt 2 CT-Röhre und Kellerlabyrinth: Medikale Räume in der Autopathobiografik der Spät- und Postmoderne

Das Teilprojekt überträgt die Frage nach der Bedeutung medikaler Räume auf Klinikschauplätze in der Autobiografik des späteren 20. und 21. Jhdts. Wie werden die Räume der Hochleistungsmedizin und des Großkrankenhauses, in denen die internationalen Illness narratives angesiedelt sind, erzählerisch dargestellt und zum Vehikel für eine Fülle von Krisenreflexionen subjektzentrierter, politischer und autoritätskritischer Art? Mona Baie (Doktorandin) untersucht dies in komparatistischer Perspektive anhand folgender deutsch- und englischsprachiger Texte:

Denton Welch: A Voice Through a Cloud (1950), Thomas Bernhard: Der Atem (1978), Audre Lorde: The Cancer Journals (1980), Christa Wolf: Leibhaftig (2002), Hilary Mantel: Giving Up The Ghost (2003), David Wagner: Leben (2013)